Unser Daniel Kehne aus Augsburg hat die einwöchige Delegationsreise der Jusos Bayern nach Israel begleitet und unter anderem unsere GenossInnen vom Willy Brandt Center in Jerusalem besucht. Hier findet Ihr seinen Reisebericht!
In München kann man kostengünstig leben. Zumindest relativ gesehen zu Tel Aviv, der zweitgrößten Stadt Israels mit etwa 400.000 Einwohnern. Viele Urlauber sind überrascht von den Preisen in den Supermärkten. Sowohl die Immobilien- und Mietpreise, besonders aber die Kosten für Lebensmittel und andere alltägliche Ausgaben bedrohen besonders die jüngeren und weniger wohlhabenderen Teile der Bevölkerung. Dabei sind gerade diese Bevölkerungsschichten nicht unbedingt die Minderheit. Mit 30,1 Jahren ist Israel im Schnitt 11 Jahre jünger als die Bundesrepublik. Die Arbeitslosenquote lag in Israel im Jahr 2013 bei 6,4%, die Arbeitslosenquote der 15-25 Jährigen bei 12,2%1.
Mindestlohn alleine reicht nicht
Während der Delegationsreise der Jusos Bayern im April 2015 konnte ich die hohen Lebenshaltungskosten auch am eigenen Geldbeutel spüren. Falafel im Schnellimbiss für 5€,Eistee im Supermarkt 3€, lokales Bier an der Bar 7€, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Dabei liegen die hohen Preise nicht an den schlechten Wechselkursen, die durch Mario Draghis Geldregen in Europa und der daraus folgenden Abwertung des Euros resultieren. Auch in der Binnenwährung, dem Neuen Israelischen Schekel (kurz:IS), der in den 1980er als Resultat der hohen Inflation das Israelischen Pfund abgelöst hatte, sind die Preise im Stadtgebiet verhältnismäßig hoch. Allein in den letzten zwei Jahren stiegen die Kosten für Lebenshaltung um 16% an. „Knapp 20% der arbeitenden Bevölkerung im gesamten Staatsgebiet kann von Ihren Einnahmen nicht leben“ analysiert das Taub Center in Jerusalem Anfang 2014. Knapp die Hälfte der Israelis mit arabischer Abstammung befindet sich unter den Armutshaushalten. Auch der Mindestlohn von 4650 NIS (umgerechnet ca. 1090€ bei 43h-Woche, seit 01.04.2015), von dem jeder achte Arbeitnehmer profitiert reicht in vielen Fällen nicht aus. Der Vorstand der größten Gewerkschaft Israels, der Histadrut, hat die entsprechende Pläne und Erhöhungen mit der Regierung vereinbart. Bis Januar 2017 steigt der Mindestlohn in Israel stufenweise auf 5000 NIS. Da im gleichen Zuge auch die täglichen Konsumkosten steigen, dürfte dies bei weitem nicht ausreichen.
Das durchschnittliche Haushaltseinkommen liegt in Israel bei umgerechnet ca. 2500€ netto, etwas mehr als die Hälfte davon fließt im Schnitt in die Miete. Viele Familien aus dem Mittelstand sind verschuldet, auch ohne Hauskauf wie man es in vielen Fällen aus Deutschland kennt. Eine Mietpreisbremse wird zwar von Teilen der Bevölkerung gefordert, aber von der neoliberalen Politik durch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nicht mitgetragen.
Die mächtigen Unternehmer bilden Kartelle
„Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit“. Dies war der Slogan vor knapp drei Jahren. Etwa eine Millionen Menschen waren im Sommer 2011 auf den Straßen Israels, um gegen die hohen Lebenshaltungskosten zu protestieren. Ein signifikantes Signal in einem Staat mit knapp über 8 Millionen Einwohnern. Im Fokus der damaligen Proteste standen neben den Preisen im Einzelhandel vor allem die Immobilienpreise, die zwischen 2009 und 2011 um 40% gestiegen sind. Die Filmemacherin Daphni Leef hatte im Juli 2011 auf Facebook geschrieben „Ich habe keine Wohnung, kann mir keine leisten und gehe auf dem Rothschild-Boulevard in einem Zelt demonstrieren. Wer macht mit?“. Bis zum August 2011 war eine 1,5km lange Zeltstadt auf dem Grünstreifen innerhalb der Stadt Tel Avivs entstanden. Getan hat sich seitdem wenig, außer dass der Grünstreifen mittlerweile geräumt ist. Viele Bürger und Bürgerinnen haben Städte wie Tel Aviv verlassen, um in ländlichen Gegenden den Hochpreisen zu entkommen. Jede dritte Immobilie in Tel Aviv wird von zugezogenen Ausländern gekauft.
Diejenigen, die ihre Heimat Tel Aviv nicht verlassen wollen und können, versuchen neue Wege zu gehen. Ein aktueller Trend ist das Einkaufen im Ausland per Onlinebestellung. 20-30% weniger zahlt man im World Wide Web weniger, trotz entsprechender Versandkosten. Zwar kann durch den Einkauf der Lebensmittel im Internet ein wenig an der Ausgabenseite gespart werden, jedoch löst es weder die Immobilienthematik, noch sorgt es für eine Flucht aus Armut und Existenznöten. Stark betroffen ist dabei auch die Altersgruppe der 15-25 Jährigen. Für besonders viel Diskussionsstoff sorgt zusätzlich die Tatsache, dass es sich um die gleichen israelischen Produkte handelt, die im lokalen Supermarkt erhältlich sind und aus israelischer Produktion stammen.
Ursachenforschung dafür endet in den meisten Fällen bei den sogenannten „Tycoons“, einem israelischen Synonym für kapitalistische Magnaten und Oligarchen. Die israelischen Einzelhandelsketten befinden sich in der Hand weniger Familienkonzerne, die so den Markt unter sich aufteilen können und teilweise mächtige Kartelle aufbauen. Preisabsprachen sind keine Seltenheit.
Flucht ins Ausland
Gerade junge Israelis mit europäischem Migrationshintergrund zieht es daher immer wieder Richtung Westen, nach Europa und speziell auch nach Deutschland. Der Weg zur doppelten Staatsbürgerschaft ist gut geebnet. Alleine in Berlin leben nach aktuellem Stand 20.000 Israelis. Berlin steht bei vielen jungen Israelis nicht nur wegen der um ein vielfaches günstigeren Lebenshaltungskosten hoch im Kurs, sondern auch wegen des ähnlichen Gesellschaftsbildes zu Tel Aviv. Als „Tel Aviv ohne Meer“ wird Berlin gelegentlich bezeichnet.
Tel Aviv und Berlin sind kulturell vielfältige Städte, die für Freiheit und Kreativität stehen. Künstler und Startup-Unternehmen sind in beiden Städten in großem Maße zu finden. In Regierungskreisen wird die Auswanderung Jugendlicher nur ungern gesehen. Die, die den Schritt ins unbekannte Europa wagen sind selten untalentiert und oftmals voller Tatendrang.
Genau die Teile der Bevölkerung, die den Staat voranbringen könnten. Laut einer Studie von Haaretz 2012, denken insgesamt 37% der israelischen Staatsbürger über eine möglichen Umzug ins Ausland in der Zukunft nach. Von diesen 37% geben 51% als Grund die hohen Lebenshaltungskosten an.
Ungerechte Politik und wenig Kontrolle
Schuld an den hohen Lebenshaltungskosten und der sozialen Ungleichheit ist vor allem die Regierungspolitik. Nach den Protesten im Jahre 2011, versprach Netanjahu zwar beschleunigte Baugenehmigungsverfahren und sorgte für den Bau von neuen Studentenwohnheimen, Preisobergrenzen passen allerdings nicht ins Konzept der Likud-Regierung. Über die soziale Ungerechtigkeit wird in allen politischen Lagern viel gesprochen und diskutiert, nur gehandelt wird kaum. Auch im Steuersystem finden sich Auswirkungen der Abstinenz sozialer Politik. Die Mehrwertsteuer liegt bei konstanten 16% und belastet als regressiver Steuersatz hohe Einkommen prozentual weniger stark.
Die durchschnittliche Einkommenssteuer liegt bei 20,5%, jedoch zahlen die obersten 1% der angestellten Arbeitnehmer im Schnitt 40%, die obersten 1% der Selbstständigen, unter denen sich ein Großteil der sogenannten Superreichen befindet, nur 26% Einkommensteuer. Die Politik Netanjahus ist sicherheitsversiert, liberal und von sozialem Handeln meilenweit entfernt. Wer glaubt, dass Netanjahu an der Lösung der sozialen Probleme ernsthaft interessiert ist, unterliegt seiner Augenwischerei. Beispielhaft dafür ist auch die Beobachtung auf dem Lebensmittelmarkt. Wo auf den ersten Blick inflationäre Gründe schuld sein könnten, fällt auf den zweiten Blick keine große Abweichung gegenüber der Inflationsrate in europäischen Staaten auf. Vielmehr stellen klassischen Kartellbildungen in den Grundnahrungsbereichen die primären Kausalitäten für die Preiserhöhungen dar. Besonders fallen dabei Milchprodukte auf, die aufgrund mangelnden Wettbewerbs eine Art Monopolpreis verzeichnen und Bestandteil eines Großteils von israelischen Lebensmitteln sind. Auch die Vergabe von Exklusivrechten für ausländische Importprodukte, sowie die notwendige zusätzliche Zertifizierung als „kosches Lebensmittel“, die für alle verzehrbaren Waren auf dem Markt verpflichtend ist, wirken sich zusätzlich negativ auf die Endpreise der Konsumenten aus.
Kontrollverlust im öffentlichen Sektor
Die neoliberale Ausrichtung von Benjamin Netanjahu setzt zusätzlich auf Sozialabbau, Kürzung von Pensionen und Privatisierung. Gerade die letztgenannte Privatisierung sorgt für viel Aufregung in der Bevölkerung und bei den Gewerkschaften.
Stromanbieter, Wasserversorger,Post und andere öffentliche Institutionen werden an private Geldgeber (teil-)verkauft. Die Kontrolle entgleitet der öffentlichen Hand. Preise und Produktqualität werden nicht mehr vom Staat, sondern vom Markt reguliert und gestaltet. Es ist die zweite Privatisierungswelle, die 2015 startet und weitere acht der 97 Unternehmen in staatlicher Hand verkauft. Während der ersten Privatisierungswelle zwischen 2003 und 2007 wurden Banken, verschiedene Telekommunikationsunternehmen und die Fluggesellschaft ElAl veräußert, um für kurzfristige Mehreinnahmen im Staatshaushalt zu sorgen. Die bereits genannten „Tycoons“ sind in erster Linie Unternehmen, die gewinnorientiert und eigennützig handeln.
Auf der Suche nach Lösungen
Wie also könnten die Lösungen für die horrenden Lebenshaltungskosten in Tel Aviv und anderen Großstädten wie Haifa oder Jerusalem aussehen?
Eine Umverteilung von der reichen Oberschicht hin zur Mittelschicht scheint aktuell in weiter Ferne. Langfristig kann eine gerechte Besteuerung den Grundstein für eine vernünftige Sozialpolitik legen. Eine progressive Besteuerung ist ebenso wichtig wie ein Stopp von Privatisierungen, die nur auf kurzfristige Finanzspritzen zielen.
Eine Obergrenze für Mieten ist ein zwingender Schritt, um auch die hohen Immobilienpreise durch die sinkenden Renditeanreize für Investoren auf ein 127 gesundes Maß zu regulieren. Wird die Entwicklung nicht gestoppt, werden die in den Städten heimischen Familien und durch Mietpreise stark belasteten Bevölkerungsschichten immer stärker aus den Ballungsgebieten verdrängt. Gerade für Studierende, Auszubildende, junge Familien, RenterInnen und GeringverdienerInnen wird das alltägliche Leben in Tel Aviv immer stärker vom eigenen Geldbeutel bestimmt und beschränkt.
Gleichzeitig hat auch die Ausgabenseite der Staatsbilanz ihre Mängel. „Die Ausgaben für militärische Sicherheit, die Eroberungen und der Schutz von Siedlungen kostet eine immense Summe“ unterstrich Dov Khenin, israelischer Politikwissenschaftlicher und Mitglied im israelischen Parlament der Knesset im Interview mit AlJazeera im März 2015. „Die Regierung muss endlich die Prioritäten auf die sozialen Belange legen und darf sich nicht von den Tycoons und Oligarchen steuern lassen, die eine rechte Likud-Bewegung unterstützen“.
Auch die Kartellbildung wird nicht effektiv genug von Netanjahu angegangen. 30 von 120 Sitzen bekam die Likud-Partei bei der vergangenen Wahl am 17. März, genug um auch weiterhin den Premierminister zustellen.
Nach den ausgebliebenen und erhofften Reaktionen im Sommer 2011 und der ständig angespannten politische Lage, fehlt Teilen der Bevölkerung die Kraft und Motivation den Kampf gegen die Ungerechtigkeit im eigenen Land fortzuführen. Der israelischen Jugend bleibt also nur sich mit den hohen Kosten abzufinden oder sofern möglich in preiswertere Gebiete umzuziehen. Umziehen in Gebiete außerhalb der israelischen Großstädte oder eine Ausreise in günstigere europäische Städte wie Berlin – oder vielleicht auch München.