Von roten und weißen Mohnblumen – Ein Kommentar zum britischen „POPPY APPEAL“

12. November 2015

Einen Kulturschock musste ich bei meinem Praktikumsaufenthalt im „fernen England“ nun wirklich nicht fürchten. Während die Namen der Supermärkte sich von den unsrigen unterschieden, waren die Produkte absolut austauschbar. Der viel gepriesene englische Humor hat auch mich häufig zum Lachen gebracht, doch stark hebt er sich vom deutschen wohl kaum ab. Egal welchen Bereich ich mit meiner Heimat und mit meinen „Landsleuten“ verglich, immer fand ich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Doch eine Sache hatte mich immer wieder aufs Neue schockiert: Die „Erinnerungskultur“ der Briten in Bezug auf die zwei Weltkriege.

Angekommen im September begann der Wahnsinn dann im Oktober. Von der letzten Oktoberwoche bis zum 11. November (Remembrance Day) läuft hier eine Fundraising-Kampagne von schwindelerregenden Ausmaßen. 350.000 Freiwillige und Mitarbeiter*innen der „Royal British Legion“ waren 2013 (Ende Oktober bis zum Folgejahr) an der Durchführung des „Poppy Appeals“ beteiligt und haben dabei 39 Millionen britische Pfund zusammenbekommen. Im ganzen Lande werden in diesen „Hauptwochen“ an jeder Straßenecke kleine künstliche Mohnblumen auf Spendenbasis verkauft, die man sich ans Revers heften kann.

Doch warum ausgerechnet Mohnblumen? Als während der Stellungskriege in den betroffenen Gebieten der komplette Grund aufgerissen wurde, wandelte sich optisch alles in eine Kraterlandschaft. Das erste, was auf diesem völlig „umgepflügten“ Boden, sowie auf den Gräbern der Soldaten wieder wuchs, waren Mohnblumen. Aufgegriffen wurde dieser Umstand in einem Gedicht („In Flanders Fields“), das der kanadische Sanitätsoffizier John McCrae im Ersten Weltkrieg schrieb. Von da an entwickelte sich die Mohnblume über die Zeit zu einem Symbol der Erinnerung an Kriegsgefallene.

Und tatsächlich trägt heute fast jeder in Großbritannien diese Blumen. Lehrerinnen, Schulkinder, Geistliche, Ladenbesitzerinnen, Busfahrerinnen, Nachrichten-sprecherinnen, Politiker*innen – jeder. Zwar ist es das Ziel für Kriegsveteranen und ihre Familien zu sammeln, doch noch mehr steht das Erinnern im Vordergrund. Erinnert werden soll zunächst ganz allgemein an Kriegsgefallene, also nicht nur an diejenigen vom Ersten und Zweiten Weltkrieg, und auch geht es nicht allein um britische Opfer – zumindest in der Theorie, doch das soll nicht primär Thema sein.

So weit, so gut also, denn ein Gedenken an so viele Menschen bedeutet in jedem Fall, dass man die Wiederholung einer solchen Katastrophe für die Zukunft vermeiden möchte. Doch Kern dieser Erzählung bleibt, dass diese im Kriege gefallenen Soldaten in der Verteidigung ihres Vaterlandes umgekommen sind. Dabei werden weniger die Opfer betrauert, sondern vielmehr an ihre „heldenhafte Aufopferung“ erinnert.

Bei dieser Argumentation dreht es mir dann wirklich den Magen um, denn dadurch wird die Loyalität der Bevölkerung für zukünftige kriegerische Konflikte gesichert. Selbstverständlich erscheint es nach einem Krieg mit unzähligen Toten – übrigens auch auf ziviler Seite – von Staaten unangebracht zu sagen: Die Opfer waren absolut sinnlos. Das hätte man doch auch anders lösen können. Denn dieses Eingeständnis würde einem seelischen Dolchstoß ins Herz eines jeden Hinterbliebenen gleichkommen. Doch wenn sich an dieser Stelle schon nicht getraut wird, die Frage der Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit eines Krieges in Bezug auf die Vergangenheit zu stellen, so sollte dies doch die leitende Frage für alle zukünftigen Konflikte sein.

Eigentliches Ziel einer solchen Kriegserinnerungs-Kampagne sollte also ausschließlich die Sicherung von Frieden sein. Deswegen können und müssen nichtsdestotrotz Kriegsgefallene gewürdigt werden, doch mit dem Fokus, dass derartig gewaltsame Konflikte nie wieder auftreten dürfen. Natürlich stehen die Briten mit dieser Art der Erinnerungskultur nicht alleine da und vermutlich wird in keinem Land so laut über die eigenen gefallenen Soldaten geschwiegen, wie in Deutschland – auch das hat natürlich Gründe. Vorbild sollte also weder das eine noch das andere Extrem sein.

Schließlich bin ich bei meinen Recherchen für diesen Artikel noch auf eine Alternative zur roten Mohnblume gestoßen: auf die „white poppies“ der „Peace Pledge Union“. Auch diese Organisation möchte Hinterbliebene nicht vor den Kopf stoßen, denn ihr Ziel ist vorwärtsgewandt. Es geht ihnen um eine klare Ablehnung von „militärischen Lösungen“ bei zukünftigen Konflikten, etwas das man bei der „Royal British Legion“ vergeblich suchen wird. Erinnert wird, um den Menschen den eigentlichen Wert des Friedens bewusst zu machen. Und obwohl ich als Jungsozialistin rote Rosen bevorzuge – bei Mohnblumen gefallen mir die weißen doch besser.

Teilen